Lissi von Bülow, SPD


Welchen Stellenwert hat die Bekämpfung von Kinderarmut für Sie?

Bonn ist eine vergleichsweise reiche Stadt. Daher sind steigende Zahlen von Kindern in Armut auch hier in Bonn beschämend und ein drängendes Alarmsignal, dass etwas grundsätzlich schief läuft und sich auch in Bonn die Schere zwischen arm und reich immer weiter öffnet. Wir müssen dringend gegensteuern! Das unmittelbare Erleben von von Geburt an ungleichen Lebenschancen im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit für einen Kindergartenträger im Ruhrgebiet hat mich zu der Überzeugung gebracht, auf kommunaler Ebene gestalten und gegensteuern zu wollen. Auf der Ebene der Kommune werden die entscheidenden Grundlagen gelegt, um Auswege aus der Armut zu finden und mehr Chancengerechtigkeit zu erzielen. Die Bekämpfung von Kinderarmut in Bonn ist eines der mir wichtigsten Ziele.


Was sind aus Ihrer Sicht die drei wichtigsten Punkte/kommunalen Maßnahmen, um Kinderarmut zu bekämpfen?

  1. Gesundheitsversorgung:

Die Bekämpfung der Kinderarmut muss schon vor der Geburt ansetzen. Gute Geburtsvorbereitung und Geburtshilfe legen die Vertrauensbasis, damit Eltern Hilfe in Anspruch nehmen und Bedarfe der Familien bekannt werden. Wichtig ist die Sicherstellung der kontinuierlichen kinderärztlichen Versorgung, weil auch hier über die ärztliche Versorgung hinaus spezieller Förderbedarf ermittelt und Unterstützung organisiert werden kann. Diese Unterstützung muss auch Familien ohne Papiere erreichen, weswegen ich die Einführung eines anonymen Krankenscheins unterstütze.

  1. Inklusion und Integration:

Wir sollten uns insgesamt bemühen, eine so inklusive Gesellschaft wie möglich zu bilden, angefangen insbesondere bei den Kindern. Das heißt, nicht nur Menschen mit Behinderungen in allen Regelsystemen zu berücksichtigen, sondern auch Menschen mit Migrationshintergrund und aus einkommensschwächeren Familien. Derzeit trennen sich Lebenswege und Entwicklungschancen häufig schon ab dem Kindergarten. Kinder werden von klein auf „gefiltert“: Kitas, Kindergärten und Schulen suchen sich die Kinder selbst aus. Die Folge ist ein Ungleichgewicht beim Förderbedarf schon ab dem Kindergartenalter. Hier müssen wir gegensteuern! Insbesondere unsere Stadtteile in Bonn müssen so entwickelt werden, dass nach Möglichkeit schon in der Einwohnerstruktur eine soziale Mischung entsteht. Wo dies nicht gelingt, muss durch entsprechende Gruppenstrukturen und spezielle Fördermöglichkeiten das Ungleichgewicht bekämpft werden.

  1. Finanzielle Unterstützung

Wir brauchen an vielen Stellen konkrete finanzielle Unterstützung. Die Leistungen des Bonn-Ausweises sollten um kostenfreien Schülertransport ergänzt werden. Wir brauchen kostenfreie Bildungsangebote und Nachhilfeunterricht, Bezuschussung beim Kauf von Lernmaterialien und Laptops/Tablets sowie Teilhabeerleichterungen bei außerschulischen Angeboten in Vereinen und bei Veranstaltungen.

 


Mit welchen Maßnahmen und Strategien werden Sie der materiellen Unterversorgung begegnen? Was wollen Sie insbesondere tun, um die materiellen Voraussetzungen für ein bedarfsgerechtes Wohnen, eine gesunde Ernährung, umfassende Bildung und Teilhabe junger Menschen und Familien zu sichern?

Wir müssen dringend mehr bezahlbare Wohnungen in Bonn schaffen. Dazu müssen wir alle Hebel in Bewegung setzen: Das Bonner Baulandmodel weiterentwickeln und schon ab weniger Wohneinheiten bei Neubauprojekten eine deutliche Quote geförderten Wohnraums erreichen. Wir müssen Wege finden, die Dächer auszubauen, Leerstand und andere Zweckentfremdung aktiv bekämpfen, Flächenpotenziale über Bungalow-Bauten nutzen und mehr in die Höhe gehen. Die Stadt muss wieder in den Sattel kommen und mit einer Stadtentwicklungs-Gesellschaft eine aktive Baulandpolitik betreiben, mehr Treiberin der Entwicklung sein als Getriebene! Wir müssen Gründstücke im Eigentum der Stadt halten und nach Konzepten und konkreten gesamtgesellschaftlichen Bedarfen möglichst nur in Erbpacht vergeben.

Ich will das Thema Ernährung noch stärker an die Familien, an die Kinder und Jugendlichen herantragen. Es braucht ja gar nicht so viel, um sich gesund zu ernähren. Es braucht aber ein anderes Verständnis und Zeit. Hebel können hier die Kitas und Offenen Ganztagsgrundschulen sein. Wo immer möglich, sollten wir Wege finden, wie auch Eltern bei diesem Thema dazu lernen und Kinder sich beteiligen können. Wo eine gesunde Ernährung im Elternhaus nicht geboten werden kann, will ich die Möglichkeiten des pilotierten Schulfrühstücks erweitern und die Teilnahme am Mittagessen in allen Fällen ermöglichen. Ich begrüße die Forderung nach einem Ernährungsrat. Ich finde, das Thema Ernährung muss wegen der vielfältigen Folgen in den Fokus. Ich will die stärkere Zusammenarbeit mit der ökologischen Landwirtschaft und das Verständnis Bonns als Stadt mitten in einer starken Obst- und Gemüse-Anbau-Region stärken. Sukzessive sollte der Anteil des Kita- und Schul-Essens aus regionalem, ökologischem Anbau erhöht werden.

Teilhabe an Bildung wird insbesondere durch die Bereitstellung von Kita- und OGS-Plätzen für jedes Kind sichergestellt. Dies sollten wir offensiv angehen, auch wenn es beim Ausbau einige Hürden zu überwinden gilt. Die frühe fachkundige Begleitung von Kindern und Familien und die Beobachtung der Bedarfe und Beratung erfolgt am besten im Rahmen der täglichen Bildungsarbeit in Kita und Schule. Vor allem die Übergänge zwischen den Abschnitten Kita, Grundschule und Weiterführende Schule sind noch stärker in den Blick zu nehmen und es ist sicherzustellen, dass nicht wertvoll Erarbeitetes beim Übergang verloren geht. Daneben müssen wir übergreifender arbeiten: Kita- & Schul-Angebote sind noch viel stärker zu vernetzen mit außerschulischen Angeboten in Vereinen und der Jugendförderung. Der Bedarf im Stadtteil muss ganzheitlich betrachtet und Angebote gemeinsam entwickelt werden. Das übergreifende Arbeiten muss etabliert werden, auch um eine gewisse Abgeschlossenheit vieler schulischer Systeme wieder aufzubrechen.


Welche Maßnahmen soll die Stadt Bonn ergreifen, um die Gesundheit sozial- und bildungsbenachteiligter Kinder und Jugendlicher zu fördern?

Die Bekämpfung der Kinderarmut muss schon vor der Geburt ansetzen. Gute Geburtsvorbereitung und Geburtshilfe legen die Vertrauensbasis, damit Eltern Hilfe in Anspruch nehmen und Bedarfe der Familien bekannt werden. Wichtig ist die Sicherstellung der kontinuierlichen kinderärztlichen Versorgung, weil auch hier über die ärztliche Versorgung hinaus spezieller Förderbedarf ermittelt und Unterstützung organisiert werden kann. Diese Unterstützung muss auch Familien ohne Papiere erreichen, weswegen ich die Einführung eines anonymen Krankenscheins unterstütze


Welche Schritte und Maßnahmen werden Sie ergreifen, um die Voraussetzungen für ein an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen ausgerichtetes Lernen und Leben in Schulen und an außerschulischen Lernorten zu ermöglichen?

Zuerst einmal ist das Ziel ganz deutlich zu formulieren, dass Schulen eben auch Lebensorte sind und mehr als nur Lernen ermöglichen sollen. Da besteht bei vielen Schulgebäuden in der Ausstattung und dem baulichen Zustand noch erheblicher Verbesserungsbedarf. Die Schulen sollten Orte sein, wo sich Kinder gerne aufhalten. Also müssen Schulgebäude im Grunde alles bieten: Lernorte, Rückzugsräume, kommunikative Orte mit der Möglichkeit der Verpflegung, Orte zum sportlichen und kulturellen Ausgleich, auch Orte, um Natur zu erleben. Wir sollten die Schulen nach Kräften unterstützen, sich hier weiter zu entwickeln und neben dem „Großen Wurf“ im Rahmen eines Neubaus oder einer Kernsanierung auch die kleinen, schnellen Zwischenwege zu Verbesserung der Schulgebäude ermöglichen. Daneben besteht ein erheblicher Bedarf, „Dritte Orte“ zu schaffen – also Räume außerhalb von Schule und Zuhause zum Lernen, für Gemeinschaftsprojekte etc. Hier bietet sich an, die Bibliotheken weiter zu entwickeln oder eine übergreifende Raumnutzung für Stadtteil-Initiativen zu ermöglichen. Hier könnten auch spezielle Beratungs- und Förderangebote Unterstützung bieten. Ich meine, wir müssten auch viele Jugendtreffs neu konzeptionieren – mit längeren Öffnungszeiten und mehr generationenübergreifendem Arbeiten, damit Paten-Systeme entstehen, die eine unglaublich positive Wirkung entfalten können. Dieses Konzept möchte ich sehr gerne mit den Jugendlichen selbst weiter entwickeln und diese insgesamt stärker an der Stadtentwicklung beteiligen.


Welche Schritte und Maßnahmen werden Sie ergreifen, um eine umfassende Teilhabe von Kindern und Jugendlichen in deren Sozialbereich und in zunehmendem Alter im gesamten Bereich der Stadt Bonn zu ermöglichen und sicher zu stellen? Wie wollen Sie insbesondere die Kinder-und Jugendarbeit und die Jugendsozialarbeit in Bonn stärker unterstützen?

Aufgabe der Jugendförderung muss die noch stärkere Vernetzung der Angebote zwischen Schulen, Vereinen, Jugendeinrichtungen, sozialen Institutionen und Betrieben, der Nutzung aller Möglichkeiten des Stadtteils sein. Hier besteht noch erhebliches Ausbaupotenzial! Sport- und Kultur-Angebote können die viel zu häufig existierende Trennung von sozialen Schichten in der Stadt überwinden helfen und eine bessere Teilhabe ermöglichen. Die Arbeit der Jugendverbände muss auf hohem Niveau gefördert und endlich entbürokratisiert werden! Ich möchte, dass es in Bonn selbstverständlich wird, dass alle gesellschaftlichen Akteure Mitverantwortung für optimale Bildungs- und Entwicklungschancen aller Kinder übernehmen.


Und wie wollen Sie die Teilhabemöglichkeiten insbesondere sozial- und bildungsbenachteiligter junger Menschen u.a. auch von Migrant*innen fördern und erweitern?

Die gewachsenen Strukturen sind zu evaluieren und ständig gemeinsam weiter zu entwickeln. Dies gilt für besondere Unterstützungsangebote bei Spracherwerb und Nachhilfe, für Paten-Systeme und für die Angebote der Wohlfahrtsverbände und etablierten Vereine, wie etwa AsA e.V. (Ausbildung statt Abschiebung). Mein Ansatz ist, stärkenorientiert zu arbeiten, zu „empowern“, mit positiven Vorbildern zu arbeiten und Erfolge erlebbar zu machen, das Selbstbewusstsein zu stärken und für spezielle Förderung zugänglich zu machen.


Wie wollen sie so genannte „Schulverweigerer“, Schüler*innen ohne Abschluss und Migrant*innen gesellschaftlich (re)integrieren?“

Ziel muss es sein, mit präventiven Maßnahmen die Zahl der Schülerinnen und Schüler ohne Schulabschluss zu verringern. Es gilt, verstärkt dort einzugreifen, wo ein Negativtrend einsetzt. Ganz wichtiger Moment ist der Übergang in die weiterführende Schule, wo manche Kinder mehr Begleitung beim Verlust mancher bisherigen stabilen Beziehungen brauchen. Schulsozialarbeit ist enorm wichtig und auch an Schulformen anzubieten, wo klassisch zunächst kein erkennbarer Bedarf besteht. Auch bei Jugendlichen ist ein ganzheitlicher Blick auf jeden Einzelnen wichtig, wie er in der Regel bei den Kindern in Kita, Grundschule und OGS praktiziert wird. Leider geht dieser Blick häufig nach dem Übergang in die weiterführenden Schulen verloren. Die weiterführenden Schulen sollten auch mit ortsbezogenen Netzwerken und z.B. Handwerksbetrieben kooperieren, wo Jugendliche in schwierigen Entwicklungsphasen ihre Talente und Stärken durch Ausprobieren erkennen können.


Welche Maßnahmen wollen Sie ergreifen, um die Umsetzung aller Kinderrechte in Bonn zu verbessern?

Die Kinderrechte sollten im Grundgesetz verankert werden. Aber auch ohne Verankerung sollten wir sie allen bewusster machen und insbesondere den Kindern vermitteln, dass sie Rechte haben. Die „Initiative Kinderrechte“ ist da ein guter Vorstoß. Zusammen mit allen Partnern, die sich um die Sicherung der Kinderrechte bemühen, sollte ständig weiter daran gearbeitet werden, den Blick für Rechtsverletzungen zu schärfen, Präventionsketten zu etablieren und gegen Verletzungen vorgehen.


Wie wollen Sie die Landes- und Bundesregierung zu größerer Unterstützung anregen, um zum einen die massiv bestehende Kinderarmut ins Bewusstsein zu rufen als auch eine Bekämpfung dieser zu forcieren?

Gute Darstellungen der sozialen Realitäten, wie etwa der Sozialbericht für Bonn, machen es leichter, die enorme Herausforderung und die Alarmsignale der Öffentlichkeit bewusst zu machen. Armut ist allerdings häufig auch nur bei genauerem Hinsehen und ausreichend Reflektion erkennbar. Die Kommunikation der Umstände müssen wir übernehmen, Maßnahmen auf kommunaler Ebene entwickeln und von Land und Bund einfordern. Es darf sich keiner vor der Erkenntnis drücken, dass etwas getan werden muss und dass die Gesellschaft auch an scheinbar unproblematischen Standorten auseinanderdriftet. Nur mit einem Schulterschluss auch auf regionaler Ebene lässt sich die Herausforderung als systemischer Fehler transparent darstellen und politisches Handeln auf Landes- und Bundesebene einfordern. Wir müssen die Solidarität aller bei dem Thema einfordern. Auch deshalb müssen wir das Thema aus dem Fachkreis herausholen, gemeinsam öffentlich bekannt machen, die Bekämpfung der strukturellen Defizite als gesamtgesellschaftliche Aufgabe formulieren. Nur dann entsteht ausreichend öffentlicher Druck, um Veränderungen zu erzwingen.